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Transformation goto

Tempo

Seit es elektroakustische Musik gibt, gibt es die Forderung nach Transpositionen, die nur einen isolierten Aspekt eines Klanges veraendern: 'derselbe Klang, ohne zeitliche und rhythmische Veraenderung, in einer beliebigen anderen Tonhoehe', oder 'derselbe Klang, ohne Tonhoehenaenderung, beliebig laenger oder kuerzer'.
Das ist soetwas wie der Stein der Weisen in der Elektroakustik. Es kann gezeigt werden, dass die Forderung genaugenommen paradox ist. Alle Verfahren, die soetwas anbieten (pitch-shift, harmonizer, time-stretch, etc.), arbeiten grundsaetzlich granular: Das KM wird dabei in winzige Abschnitte (windows) zerlegt, diese mit verschiedene Methoden transformiert und wieder zusammengesetzt. Diese Zerstueckelung kann man so anlegen, dass sie fuer einen konkreten Fall kaum wahrnehmbar ist, eine allgemeine Loesung fuer alle Arten von KM gibt es aber nicht. Bei Weiterverarbeitung von auf diese Weise veraendertem KM kann es dann vorkommen, dass die der Wahrnehmung entzogene granulare Zerstueckelung ploetzlich wieder penetrant bemerkbar wird. (Vielfach wird das aber auch als Stilmittel eingesetzt).
Demgegenueber ist die Tempotransformation von KM eine echte Transposition. Sie ist kontinuierlich, umkehrbar und mit einem einzigen Wert (Parameter) beschreibbar.
Dieser Parameter ist ein Faktor.

  Faktor = 1.0 Originaltempo
  Faktor = 2.0 doppeltes Tempo
  Faktor = 0.5 halbes Tempo

Entsprechend diesem Faktor veraendern sich dabei Tonhoehe (proportional), Dauer (reziprok), Steilheit (proportional), Rhythmus (proportional).
Bei einem Faktor 2.0 zum Beispiel bekommen alle Teiltoene im KM die doppelte Frequenz (Oktave), die Gesamtdauer des KM wird dabei halb so lang, der innere Rhythmus doppelt so schnell. Hat das KM perkussive Komponenten (attack - decay), dann ist auch eine proportionale Aenderung der Steilheit zu beachten - der Klang wird 'haerter' oder 'schroffer'.
Mit Bezug auf die Tonhoehenaenderung laesst sich der Parameter auch in Form der gewohnten musikalischen Intervalle angeben (Faktor = 2.0 - eine Oktave hoeher, eigentlich 'schneller').

 

Intervall

Faktor (rein)

Faktor (temperiert)

 

Oktave

2.0

2.0

 

Quint

1.5

1.4983

 

Quart

1.3333

1.3348

 

gr.Terz

1.25

1.2599

 

kl.Terz

1.2

1.1892

 

Ganzton

1.125

1.1225

 

Halbton

1.0667

1.0595

Desgleichen auch in Cent (ein hundertstel Halbton, 1200 Cent sind eine Oktave).
Die Umrechnung von Cent (C) in Tempofaktor (T) :

 

T = 2.**(C/1200)

  C = 1200*log(T)/log(2)

(Achtung: Bei manchen Samplern wird satt Cent eine aehnliche Unterteilung in 1024 Stufen / Oktave verwendet. In diesem Fall ist bei der obigen Umrechnung 1200 durch 1024 zu ersetzen).

Hauefig findet man auch Angaben in Prozent fuer Tempoveraenderungen (zB. varispeed bei Tonbandmaschinen). Dies ist nicht zu empfehlen, da die betreffenden Intervalle nach oben und nach unten verschieden sind: 50% schneller waere eine Quint hoeher (Faktor 1.5), 50% langsamer waere eine Oktave tiefer (Faktor 0.5).

Ein Sonderfall der Tempotransformation ist die Zeitumkehrung (time reverse)
Sie steht in der Regel isoliert da (switch) und ist in das Tempokontinuum nur ueber den hypothetischen Tempofaktor 0 einzubinden.

 

Faktor = 1.0

Originaltempo
 

Faktor = 0

Stillstand

 

Faktor = -1.0

Zeitumkehrung

(Es existiert aber ein zyklisches Kontinuum zwischen einem Original und seiner Zeitumkehrung >> Fraktionale Fouriertransformation goto).
Zeitumkehrung wird vielfach und auf verschiedene Weise verwendet: zur Auflockerung oder Desillusionierung [@6], apokryph, um eine Botschaft zu verstecken [@1], als dramatisches Element [@7], systematisch als Spiegelung [@5] [@8]

Phaenomenologie der Tempotransposition

Besonders bei vertrautem Klangmaterial (zB. menschliche Stimme) zeigt sich folgendes Phaenomen: Bei geringer Transposition (bis etwa 2.0 oder 0.5), in der das Original noch erkennbar ist, stellt sich eine Irritation ein, die auf eine triviale Art belustigend wirkt (Mickymouse-Effekt). Ursache davon koennte sein, dass wir zu jedem zeitlichen Ablauf automatisch eine Groessenordnung assoziieren. Wesen aber, die sich so bewegen, spielen oder sprechen, muessen notwendig kleiner sein und ungefaehrlich, bzw. groesser und plump und daher auch ungefaehrlich. Demgegenueber fuehlt man sich selber maechtig - und das ist lustig [@1]. GroessereTransposition (etwa 4.0 bis 8.0 in beide Richtungen) wirkt dagegen eher bedrohlich. Die assoziierte Groessenordnung geht ins insektenhaft Kleine bzw. ins Riesige.
Noch groessere Transposition (ueber 8.00) fuehrt zunaechst in Bereiche, in denen die Identitaet mit dem Original unter Umstaenden nicht mehr nachvollziehbar ist, die Zeitwahrnehmung ist an der Kippe zu einer anderen 'Sicht', zu einer neuen, elementaren Gestaltwahrnehmung. Solche Grenzzustaende sind manchmal sehr anstrengend zu hoeren. (Staendige Beschaeftigung damit fuehrt zu regelrechtem Stress). Noch groessere Transposition fuehrt aus diesem Bereich aber wieder hinaus, die Geschwindigkeitswahrnehmung kehrt sich um, das innere Tempo scheint wieder langsamer oder schneller zu werden. Wo diese Umkehrpunkte sind und wie stark sie wirken, haengt sehr vom Klangmaterial selber ab. In der Regel ist dieser Wechsel aber zyklisch bei fortgesetzter Transposition.
Tempotransposition allein angewandt hat ihre natuerlichen Grenzen: die Frequenzen verlassen den Hoerbereich, zeitliche Prozesse werden mikroskopisch kurz oder unnachvollziehbar lang. In der Kombination mit anderen Transformationen, die diese Phaenomene kompensieren, kann man diese Grenzen aber weit ueberschreiten. [@2].

Innerer Rhytmus
Inneres Tempo
Melodiebildung

Jeder auch nur einigermassen lebendige Klang hat einen inneren Rhytmus, einen inneren Puls. Dieser veraendert sich mit der Transposition. Das gilt es bei der Melodiebildung durch Tempotransposition zu beachten. Ein linearer Rhythmus ist da oft nicht geeignet und fuehrt zu grotesken und bizarren Bewegungstypen. (Das kann natuerlich auch beabsichtigt sein). Einen ruhigeren Gesamteindruck von Bewegung erziehlt man erfahrungsgemaess durch Verwendung von Exponentialreihen fuer die zeitliche Struktur [@4]. Eine andere Methode ist, das Metrum flexibel zu halten und an den sich staendig veraendernden inneren Rhythmus anzupassen. Dabei muessen nicht notwendig alle hoeheren Passagen schnell und alle tieferen langsam sein: Man kann auch dagegenarbeiten, teilen, synkopieren, etc. [@5]

Akkordbildung

Bei der Akkordbildung durch Tempotransposition sind die hohen Komponenten (besonders deutlich bei Ausklaengen) ensprechend kuerzer als die tiefen. Das entspricht aber ganz gut den natuerlichen Gegebenheiten bei den Musikinstrumenten (tiefe Klaviersaiten klingen laenger aus als hohe). Hinsichtlich der Dichte gibt es aber eine Grenze: wenn die Intervalle zu klein sind, dann verschmelzen die Komponenten zu einer neuen Klanggestalt, die nicht als 'Akkord' wahrgenommen wird. Die Schichtung eines starren Klanges in ganz kleinen Tempointervallen wird zu einem neuen, beweglichen, biegsamen Klangtypus [@9], ein Cluster in engen Intervallen wird zu einem rauschenden Pseudoglissando [@10].

Polyrhythmik

Tempotransposition ist ein einfaches und effizientes Mittel zur Erzeugung von polyrhythmischen Strukturen mit KM das in sich deutlich rhythmisch ist. Proportionen, die, wenn man sie Musikern vorschriebe, sehr vetrackt waeren (7:9 oder 11:13 zB.), wirken dabei haeufig organisch und unmittelbar verstaendlich, wenn sie auf diese Weise exakt realisiert werden [@6].
Auch hier gibt es eine Grenze hinischtlich der Dichte. Schichtungen in kleinen Tempointervallen werden nicht mehr polyrhythmisch empfunden, sondern als eigener Klangtypus, je nach Synchronisation verschwommen, schnarrend, rauchig [@11]

Der Uebergangsbereich von Frequenz und Zeitwahrnehmung

Der 'Schnittpunkt' von Frequenz und Zeit ist alles andere als ein geometrischer Punkt. Denn Frequenz und Zeit bilden keine rechtwinkelige Koordinaten, wie es uns das Notenbild oder diverse 3D-Sonogramme suggerieren. Sie formen an dieser Stelle einen Raum, denn man am ehesten noch als 'Abgrund' beschreiben kann. Klaenge, die in diesem Bereich stark praesent sind, wirken plastisch, tiefgruendig; solche, die darin wenig praesent sind, wirken eher schal und oberflaechlich.
Tempotransposition verschiebt diesen Uebergangsbereich !
Bei stark plastischen Klaengen kann es daher geschehen, dass bereits geringe Transposition die nachvollziehbare Identitaet zerstoert und das Denken in einfachen Intervallen durchkreuzt. Dann kann es vorkommen, dass eine Transposition von nur 10% (Faktor 1.1) nicht die zu erwartende Tonhoehenveraenderung um einen Ganzton bewirkt, sonder gaenzlich andere Intervallverhaeltnisse, weil wichtige Teile fuer die Tonhoehenwahrnehmung verschwinden, andere dafuer in Erscheinung treten. Mit solchen 'Identitaetsspruengen' kann man sehrwohl komponieren, Melodiebildung in einem traditionellen Sinn ist damit aber nur begrenzt moeglich. [@3]

Technische Aspekte

analog
durch varispeed bei Tonbandmaschinen. Dabei ist zu beachten, dass die Entzerrung nicht mehr stimmt: der Klang wird bei schneller Geschwindigkeit scharf, bei langsamer dumpf. (Bei den schaltbaren Bandgeschwindigkeiten dagegen wird die Entzerrung entsprechend korrigiert). An diese klanglichen Gegebenheiten hat man sich im Laufe der Jahrzehnte gewoehnt. Groessere Probleme sind erst wieder durch die Verwendung von noise reduction (dbx, dolby) aufgetreten, weil dabei die Decodierung stark beeintraechtigt wird.

digital
• durch Veraenderung der sampling rate.
Jeder digital gespeicherte Wellenverlauf kann grundsaetzlich in jeder beliebigen Geschwindigkeit (Abtastrate) reproduziert werden. Einige aeltere sound-Karten haben das als feature auch angeboten. Voraussetzung fuer einen sauberen Klang sind flexible Glaettungsfilter.
• durch Interpolation.

Es zeigt sich, dass die Tempotransformation innerhalb des digitalen Mediums im Grunde ein harmonikales Problem ist: ideal saubere Ergebnisse gibt es theoretisch nur bei Tempofaktoren in ganzzahligen Bruechen. Praktisch genuegt meistens vorherige oder nachtraegliche Filterung, um aliazing oder Rauhigkeit zu vermeiden. Bei heiklerem KM (schmalbandige Klaenge und unharmonische Spektren) empfiehlt sich oversampling oder Interpolation hoeherer Ordnung.

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@1

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@2

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@3

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@4

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@5

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